Seit dem 9. Jahrhundert ist in Transsilvanien (Siebenbürgen,
ungarisch: Erdély) bei der zu den Magyaren zu rechnenden Volkgruppe
der Székler, eine Kerbschrift (Rovásírás) in
Gebrauch, die auch an germanische Runen erinnern lässt. Diese als „altungarische
Kerbschrift“ bezeichneten 45 Zeichen wurden auch „Nikolsburger Alphabet“
genannt und sind auf einem Pergamentblatt zusammengestellt, das als Beilage
in einem in Nürnberg gedruckten Buch aus dem Jahre 1483 gefunden wurde.
Der Begleittext dieser Zeichen weist daraufhin, dass sie aus Holz geschnitten
wurden und von rechts nach links (!) zu lesen sind. Zu den wichtigsten
Zeugnissen dieser Schriftart gehört ein Dokument in der Kirche der
Ortschaft Csíkszentmihály in Transsilvanien und ein weiteres,
von einem ungarischen Reisenden in Istanbul entdecktes Schriftstück.
Obwohl schrifttypologische Vergleiche der Rovásírás
mit anderen ähnlichen Schriftarten zu durchgeführt wurden (z.
B. mit germanischen und alttürkischen Runen), blieben ihre möglichen
historischen Affiliationen im Bereich des Spekulativen. Parallelen mit Zeichen
der alttürkischen (sibirischen) Runenschrift lassen sich für ungefähr
13 Zeichen vermuten Die historische Beziehung zwischen Ungarn und Türken
ist für die Frühzeit bezeugt, als ungarische Stammesverbände
unter Führung der Onoguren (daher der Name Ungarn) von Südrussland
(Etilköz) aus nach Westen gewandert sind. Mit zwei Wellen gelangten
die Ungarn in ihre heutige Heimat. Die erste Migrationswelle brachte im 6.
Jahrhundert Awaren und Ungarn nach Pannonien. Ende des 9. Jh. dann erfolgte
dann die sogenannte historische Landnahme. Lange dachte man, die Rovásírás
wäre isoliert in der Schrifttradition Mitteleuropas. Aufgrund von Grabfunden
aus den 1980er Jahren weiß man jedoch, dass auch bereits bei den Awaren
eine Kerbschrift. in Gebrauch war. Möglicherweise ist sowohl die altungarische
als auch die awarische Kerbschrift mit der ursprünglichen sibirischen
Schrift assoziiert, deren Schriftzeugnisse (Steininschriften) bereits aus
dem 8. Jh. stammen. Im Gegensatz zu den germanischen Runen, die mit der
Christianisierung als heidnisch in Verruf und Vergessenheit gerieten, fand
die Rovásírás auch weiterhin Verwendung. Noch heute
kann man auch in Budapest Lehrbücher und Übungshefte zum Erlernen
der alten Schrift kaufen. In der Matthiaskirche schrieb mir eine Angestellte
des Souvenirshops die Kerbschriftzeichen, die sie vom Großvater aus
Siebenbürgen gelernt hatte, auf einem Blatt Papier nieder.